Wie Fechten bei der Verkehrserziehung hilft

Beim Fechten sind Fähigkeiten entscheidend, die Kinder auch im Straßenverkehr helfen. Olympiasiegerin Britta Heidemann weiß welche.

Das Duell auf der Planche ist in diesem Fall ziemlich unfair. Bei einem Sport wie dem Fechten, bei dem die Reichweite entscheidend sein kann, hat der elfjährige Bruno gegen die erwachsene Britta Heidemann keine Chance. Bruno lässt sich das kurze Trainingsgefecht trotzdem nicht nehmen. Wer große Ziele hat, braucht Herausforderungen zum Wachsen. Bruno will mal genau das schaffen, was seine Gegnerin schon erreicht hat: einen Olympiasieg im Degenfechten. Auf dem Weg dorthin hat die ehemalige Leistungssportlerin Fähigkeiten und Kompetenzen bis zur Perfektion entwickelt, die auch im Straßenverkehr entscheidend sein können. MobileKids hat Britta Heidemann deshalb beim Training mit dem Nachwuchs ihres Fechtvereins in Leverkusen besucht.

Nicht gleich beim Loslaufen ans große Ziel denken

Als Bruno von seinem großen Ziel erzählt, muss Britta schmunzeln. Olivia, die beim Training auch dabei ist, würde der Gewinn eines deutschen Meistertitels fürs Erste genügen. Die Messlatte hängt hoch in der Fechtabteilung des TSV Bayer 04 Leverkusen. Das ist auch Brittas Erfolgen zu verdanken. Die spätere Olympiasiegerin hat für ihren Weg nach ganz oben eine Strategie gewählt, an der sich auch Kinder auf dem Weg zur Schule oder zum Sporttraining orientieren können. Nicht gleich beim Loslaufen ans große Ziel denken, sondern zuerst an die dazwischenliegenden Herausforderungen: fahrradfahrende Kinder auf dem Gehweg oder der Straße sowie die Ampel an der nächsten Ecke zum Beispiel.

Trainingsstunde mit Britta

Auch auf der Planche dabei: Moki
Bruno ist bereit für das Duell mit der Olympiasiegerin
Abstände, Tempo, Reaktion – alles Faktoren, die beim Fechten, aber auch im Straßenverkehr wichtig sind
Zufriedene Gesichter nach einer ungewöhnlichen Trainingseinheit mit Britta Heidemann

Auf der Planche sind die Verhältnisse mittlerweile etwas ausgeglichener. Britta hat Platz für Olivia gemacht. Auf dem Programm steht der einfache Angriffsstoß. Olivia macht einen Ausfallschritt, streckt den Arm aus der Bewegung heraus nach vorne und trifft Bruno am Oberkörper. Das funktioniert super. Trotzdem macht die Olympiasiegerin kleine Korrekturen und sieht sofort, wie sich noch ein paar Millimeter rausholen lassen. Der schnörkellose Direktangriff ohne viele Finten, sei eine ihre Lieblingsaktionen. „Wenn man den perfekten Moment erwischt, sind die einfachsten Lösungen oft die besten“, erzählt sie den Kindern.

Wichtig ist Distanzgefühl

In der Realität ist das aber alles andere als einfach. Denn Olivia gibt bei ihrem Angriffsstoß ihre Deckung auf und öffnet Bruno die Tür zum Gegenschlag. Deshalb ist perfektes Timing gefragt. Die Elfjährige muss genau erkennen, wann Bruno eine Bewegung macht, die ihm keine schnelle Gegenreaktion erlaubt und an welcher Stelle er seine Trefferfläche dabei entblößt. Dann heißt es ab nach vorne und zustoßen. Damit der Angriff gelingt, muss Olivia schon bei der Vorbereitung den richtigen Abstand einhalten. „Ich mag die mittlere Mensur am liebsten“, sagt Olivia. Mensur nennt man beim Sportfechten den Abstand zum Gegner. Bei der mittleren muss Olivia einen Ausfallschritt machen, bevor sie mit einem Armstoß Bruno treffen kann. Welche Distanz sie genau einnimmt, hängt von ihrer und von Brunos Reichweite ab. Der richtige Abstand muss also von Gefecht zu Gefecht neu ausgelotet und angepasst werden. Ähnlich wie auf dem Schulweg mit dem Fahrrad, wenn Kinder in der Gruppe hintereinanderfahren und es plötzlich bergab geht oder Fußgänger zu überholen sind. Wichtig ist Distanzgefühl auch an Straßen ohne Fußgängerüberwege oder -Ampeln. „Wenn ich über eine Straße gehen will, muss ich immer darauf achten, dass die Autos weit genug weg sind“, sagt Bruno.

Hinter der mittleren Mensur versteckt sich auch eine Grundtaktik, die im Straßenverkehr genau richtig ist. Olivia zeigt damit, dass sie abwartend, aber nicht zu weit entfernt vom Geschehen agiert. So wie es sein muss, wenn um einen herum Autos, Fahrräder oder Bahnen kreuzen, auf die man besonnen reagieren muss, um dann im richtigen Moment zügig über die Straße zu gehen.

Konzentration aufs Wesentliche

Beim Training von Britta und den Kids wird erkennbar, dass Fechten dem Stop-and-go der Verkehrswelt ziemlich ähnlich ist. Olivia und Bruno gehen in die Ausgangsposition, nehmen ihre Mensuren ein. Es folgt eine rasante Abfolge aus Schritten, Finten und Paraden mit dem Degen, die kaum auseinanderzuhalten sind und in einem Angriffsstoß mit Treffer enden. Dann geht es wieder zwei Schritte auseinander in die Ausgangsposition. Eine kurze Pause entsteht. Wie auf der Straße wechseln sich Phasen, in denen höchste Konzentration gefragt ist mit Phasen ab, in denen sich die Kinder etwas sacken lassen können, sich aber keineswegs ablenken lassen dürfen. Dabei gibt es genug Störfaktoren. Auf der Straße ein bimmelndes Smartphone oder Freunde auf der gegenüberliegenden Seite. Während des Gefechts Trainer, Eltern und Zuschauer, die ihre Kinder in den kurzen Pausen anfeuern oder Tipps reinrufen. „Wenn neben der Planche zu viel los ist, kann das schon nerven“, erzählt Bruno. Brittas klarer Rat für solche Fälle: Solange das Gefecht läuft, hat draußen ein Trainer oder eine Trainerin das Sagen. Vom Rest sollten sich die Nachwuchsfechter nicht ablenken lassen. Konzentration aufs Wesentliche ist immer wichtig. Das zu beherzigen gilt nicht nur für den Sport, sondern ist auch im Straßenverkehr ein guter Tipp.

Drei Tipps von Britta, um Reaktionsschnelligkeit und Konzentration zu verbessern:

1. Der Trick mit dem Handschuh

Im Fechttraining werden Reaktionsschnelligkeit und Konzentration oft mit einer Übung trainiert, die auch im Klassenzimmer gemacht werden kann. Dafür nimmt ein Kind einen Handschuh, eine Mütze oder eine Socke in die Hand und hält es an eine Wand. Das zweite Kind stellt sich seitlich etwa einen Meter von der Wand entfernt auf, wenn zum Beispiel ein Stock als Degenersatz im Einsatz ist etwa eineinhalb Meter. Dann lässt das erste Kind den Gegenstand fallen und das zweite versucht ihn mit einem Ausfallschritt und einer Stoßbewegung aufzufangen und an die Wand zu drücken. Die Schwierigkeitsstufe lässt sich noch etwas seigern. Das Kind, das das Ziel fallen lässt, kann dieses auch ein wenig nach rechts und links bewegen – und dann fallen lassen.

 

2. Eine Frage des Abstands

Für Fechter dient die Übung an der Wand dazu, ein Gefühl für ihre Mensur zu entwickeln und genau zu treffen. Kinder im Unterricht können dabei lernen, kurze Distanzen einzuschätzen. Ein Kind stellt sich dafür einfach seitlich leicht gehockt hin, das zweite hebt eine Hand als Trefferfläche auf Schulterhöhe. Kommt ein Degenersatz zum Einsatz, ist es besser an der Wand eine Trefferfläche zu markieren. Dann versucht das erste Kind, die Zielfläche mit Ausfallschritt und ausgestrecktem Arm oder der Stockspitze zu erreichen. Dabei geht es von Versuch zu Versuch immer ein Stück weiter vom Ziel weg, sodass der Ausfallschritt immer größer werden muss – oder sogar noch Schritte vor dem Ausfall nötig sind. Die Distanz des letzten Treffers (Vorderfuß) wird festgehalten und gemessen. Auf der Strecke kann man dann relevante Maße aus dem Straßenverkehr einzeichnen, zum Beispiel die Regelfahrstreifenbreite einer Landstraße (drei Meter) oder einer Bundesstraße (3,5 Meter). Oder wie wäre es mit dem Mindestabstand beim Überholen von Fahrrädern innerorts von eineinhalb Metern?

 

3. Übung mit Tischtennisbällen

Reaktionsschnelligkeit, Konzentration und Wahrnehmung von Bewegungen lassen sich ganz einfach mit zwei Tischtennisbällen trainieren. Zwei Kinder stehen sich mit ausgestreckten Armen gegenüber. Eines hält versteckt in seinen Fäusten zwei Tischtennisbälle. Sobald dieses Kind einen Ball fallen lässt, muss das zweite ihn fangen, bevor er den Boden berührt. Abwandlung: Der Ball muss auf dem Boden aufspringen und beim Aufsteigen gefangen werden. Das erste Kind kann dem Ball durch leichte Bewegungen eine Richtung mitgeben, sodass er zur Seite wegspringt.

Zur Person

Britta Heidemann wurde 1982 in Köln geboren und war in ihrer aktiven Zeit eine der besten Degenfechterinnen der Welt. Ursprünglich war sie Leichtathletin und Schwimmerin und kam über den modernen Fünfkampf erst im Alter von zwölf Jahren in Kontakt mit ihrem späteren Paradesport. Mit der Spezialisierung aufs Degenfechten legte sie 2000 den Grundstein zu einer einmaligen Erfolgsgeschichte, deren Höhepunkt sie sieben Jahre später erreichte, als sie 2007 Weltmeisterin, 2008 Olympiasiegerin und 2009 Europameisterin wurde. Es folgten viele weitere Medaillen, ehe sie 2018 ihre Laufbahn beendete.

Heidemann setzt sich in ihren Ämtern als Botschafterin der Bundesregierung zum Thema „Sport für Entwicklung“, Mitglied der Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) oder als Kuratoriumsmitglied der Stiftung der deutschen Fußball Liga (DFL) für Nachhaltigkeit bei großen Sportevents, für sozialen Zusammenhalt und Werte wie Respekt, Teamgeist und Fairplay ein.