„Wer Kopfhörer trägt, ist im Straßenverkehr fast wie taub“

Akustikentwickler Markus Länder von Mercedes-Benz Vans spricht mit MobileKids über die Bedeutung von Fahrzeuggeräuschen für die Verkehrssicherheit und erklärt, warum Hören im Straßenverkehr so wichtig ist – besonders für Kinder.

Wie wichtig ist das Gehör im Straßenverkehr?

Das Hören ist ein zentraler Sinn, um sich sicher zu orientieren – besonders für Fußgänger und Radfahrer. Wir können nun mal nur in eine Richtung schauen, aber gleichzeitig aus mehreren Richtungen hören. Wer beispielsweise einen Zebrastreifen überquert, kann unmöglich gleichzeitig nach links und rechts schauen. Doch hören kann man beide Seiten. Das ist enorm wichtig – und wird leider oft unterschätzt.

 

Was macht das Thema so brisant?

Die sichersten Fahrzeuge nützen nichts, wenn Fußgänger oder Kinder auf dem Fahrrad sie zu spät bemerken. Und genau das passiert immer häufiger, weil viele Menschen mit Kopfhörern oder In-Ear-Musik unterwegs sind. Man blendet die Umwelt aus, fühlt sich dabei sicher – ist es aber nicht. Ich sage immer: Wer Kopfhörer trägt, ist im Straßenverkehr fast wie taub.

 

Verschärfen Elektrofahrzeuge diese Situation zusätzlich?

Elektrofahrzeuge sind bei niedrigen Geschwindigkeiten deutlich leiser als herkömmliche Verbrenner. Das ist aus Komfortgründen ein großer Vorteil – birgt aber auch Herausforderungen für die Verkehrssicherheit. Deshalb sind alle neuen Elektrofahrzeuge mit einem sogenannten AVAS-System ausgestattet. Dieses künstlich erzeugte Fahrgeräusch sorgt dafür, dass E-Fahrzeuge im Umfeld gut wahrnehmbar bleiben, auch wenn sie sich langsam nähern.

Zur Person

Markus Länder, 50, ist Diplomingenieur bei Mercedes-Benz. In seiner Diplomarbeit beschäftigte er sich mit der Vorhersage des Innengeräusches in Fahrzeugen auf Basis der Statistischen Energieanalyse (SEA). Seit seinem Eintritt in die damalige DaimlerChrysler AG im Jahr 2001 betreut er alle Transporter-Baureihen im Bereich NVH (Noise, Vibration, Harshness). Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den strukturdynamischen Eigenschaften der Fahrzeuge – also auf Phänomenen wie Zittern, Wummern und Dröhnen. Aus privatem Interesse an Car-HiFi war er zudem an der Abstimmung des Burmester-Soundsystems in der V-Klasse beteiligt. Über diesen Weg kam er erstmals mit dem Thema Fahrzeugsound in Berührung.

Markus Länder mit den MobileKids Kilian und Mona (v.l.).

Und wie klingt so ein Warnsignal?

Das ist eine Wissenschaft für sich – und eine Designfrage. Bei Mercedes-Benz arbeiten ganze Teams daran, dass unsere Fahrzeuge auch akustisch wiedererkennbar sind. Das Geräusch soll auffällig, aber nicht nervig sein. Es muss warnen, ohne zu erschrecken. Und am Ende soll es klingen wie ein Mercedes – hochwertig, souverän, angenehm. Sowohl im Van- als auch im Pkw-Bereich arbeiten wir daran mit verschiedenen Frequenzbereichen, Testreihen und jeder Menge Feingefühl.

 

Gibt es in der Akustikentwicklung Unterschiede zwischen Pkw und Vans?

Die grundlegende Soundgestaltung erfolgt in enger Abstimmung mit dem Pkw-Bereich. Die verwendeten Klänge sind also sehr ähnlich. Dennoch gibt es klare Unterschiede: Eine 1:1-Übernahme der Hardware ist in Vans oft nicht möglich. Durch die unterschiedlichen Geometrien ergeben sich andere Abstrahlcharakteristiken, die wir gezielt ausgleichen müssen. Das bedeutet: Auch wenn der Sound gleich klingt, braucht es im Van oft eine ganz eigene technische Lösung, um das gleiche Ergebnis zu erzielen.

 

Das klingt aufwendig. Wie entsteht so ein Sound?

Der erste Schritt findet im Studio statt – dort wird das Grundgeräusch entworfen. Dann wird es in ein Fahrzeug eingebaut und bei verschiedenen Geschwindigkeiten getestet. Es wird gemessen, angepasst, optimiert. Wichtig ist, dass der Sound aus verschiedenen Richtungen gut hörbar ist – also auch vorne oder hinten am Fahrzeug. Am Ende geht es auch um subjektives Empfinden: Das Geräusch muss zum Fahrzeug und zur Marke passen. Das Ganze kann sich über mehrere Monate ziehen – von der ersten Idee bis zur Serienreife.

 

Was bedeutet das für deine tägliche Arbeit?

Unser Alltag spielt sich zwischen Prüfstand, Soundstudio und Teststrecke ab. Wir hören ständig ganz genau hin – manchmal auch im übertragenen Sinne. Denn wir müssen auch das Verhalten der Menschen verstehen: Was nehmen sie wahr? Wie reagieren sie? Und wie sorgen wir dafür, dass unsere Fahrzeuge rechtzeitig auffallen – vor allem in komplexen Verkehrssituationen?

Bildergalerie zum Videodreh

Welche Situationen meinst du konkret?

Belebte Innenstädte sind ein gutes Beispiel. Viele Menschen, viele Geräusche, viele Ablenkungen. Oder auch Übergänge bei schlechter Sicht, etwa bei Nebel oder in der Dämmerung. Da spielt das Hören eine noch größere Rolle als das Sehen. Ich empfehle jedem mal den Selbstversuch: Einfach mit geschlossenen Augen an einer ruhigen Kreuzung sitzen – man kann ziemlich genau wahrnehmen, was um einen herum passiert. Das ist Verkehrserziehung zum Anfassen.

 

Wie reagieren eigentlich Kinder im Vergleich zu Erwachsenen?

Kinder hören grundsätzlich höhere Frequenzen besser – ihr Gehör ist feiner. Aber ihnen fehlt oft die Erfahrung, Geräusche richtig einzuordnen. Ein Erwachsener kann besser einschätzen, ob ein Auto schnell oder langsam fährt, ob es bremst oder gleich abbiegt. Kinder dagegen erkennen die Gefahr oft erst spät. Deswegen ist es so wichtig, das Hören als Sicherheitsfaktor gezielt zu trainieren – in der Schule, aber auch im Alltag.

 

Welches Fahrzeuggeräusch magst du persönlich am liebsten?

Ich mag es, wenn ein Fahrzeug beim Beschleunigen einen richtig coolen Sound hat – das macht einfach mehr Spaß beim Fahren. Aber auch die kleineren Geräusche faszinieren mich: Zum Beispiel der sphärische Ton, den viele Elektrofahrzeuge beim Starten von sich geben. Das vermittelt ein Gefühl von Zuhause und Ruhe. Es ist fast so, als würde das Fahrzeug mit uns sprechen.

 

Was macht deine Arbeit für dich so spannend?

Die Elektromobilität hat das Tor für neue Klangwelten geöffnet. Früher waren Geräusche einfach da – heute können wir sie gestalten. Es ist fast wie Musik komponieren. Und wenn ich sehe, wie sich das auf Sicherheit, Komfort und Fahrgefühl auswirkt, dann weiß ich, warum ich diesen Beruf liebe.